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Waldemar von Suchodoletz (30.05.1944 – 23.02.2021) – Nachruf

von | Apr 1, 2021 | Allgemein

Nachruf

Professor Dr. Waldemar von Suchodoletz ist am 23. Februar diesen Jahres völlig überraschend im Alter von 76 Jahren in München verstorben.

Durch seine Veröffentlichungen und Vorträge über Entwicklungsstörungen ist er vielen Fachleuten in Wissenschaft, Ausbildung und Praxis auf dem Gebiet der Sprach-, Lese- und Rechtschreibstörungen sehr bekannt und wird hier noch lange nachwirken.

Waldemar von Suchodoletz studierte Humanmedizin in Leipzig und Rostock und promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine ärztliche Tätigkeit begann er am Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock, wo er die Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie mit einer Spezialisierung auf Kinderneuropsychiatrie absolvierte. Er habilitierte sich in dieser Zeit und übernahm 1987 die Leitung der Abteilung für Neuropsychiatrie des Kindes und Jugendalters an der Medizinischen Hochschule Erfurt, wo seine psychotherapeutische Ausbildung stattfand, er den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie erwarb und ab 1991 die Professur für Kinderneuropsychiatrie inne hatte. 1993 wurde Waldemar von Suchodoletz auf die Professur für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an die Ludwig-Maximilians-Universität München berufen. Bis 2009 war er dort Leiter der der Abteilung für Entwicklungsfragen der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Klinikum der LMU.

In der Forschung widmete sich Waldemar von Suchodoletz mit neurophysiologischer und neuropsychologischer Methodik ätiologischen Aspekten von kindlichen Sprachstörungen sowie Lese-Rechtschreibstörungen. In diesem Zusammenhang setzte er sich kritisch mit dem Konzept der auditiven Verarbeitungs- und  Wahrnehmungsstörung auseinander und überprüfte ursachenbezogene therapeutische Herangehensweisen bei der Behandlung von Lese-Rechtschreibstörungen. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf frühen Verzögerungen der Sprachentwicklung. In der Münchner Längsschnittstudie zur Prognose und Prädiktion der Sprachentwicklung beschäftigte er sich mit sprachlichen Entwicklungsverläufen, und es entstanden diagnostische Instrumente zur Erfassung früher sprachlicher Verzögerungen im Rahmen kinderärztlicher Vorsorgeuntersuchungen.

Waldemar von Suchodoletz wird durch seine zahlreichen Aktivitäten, mit denen er vor allem die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den vielen unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit Störungen der Laut- und Schriftsprache auseinandersetzen, im Gedächtnis bleiben. Interdisziplinäre Verständigung ist oft mühsam und nicht immer einfach, dennoch hat Waldemar von Suchodoletz hier weichenstellende Dinge auf den Weg gebracht. Im Jahr 2000 führte er zum ersten Mal Fachleute aus Wissenschaft und Praxis unterschiedlicher Disziplinen in München auf der ersten „Interdisziplinären Tagung zu Sprachentwicklungsstörungen – ISES“ zusammen. Es folgten auf seine Initiative hin alle zwei Jahre Neuauflagen dieser Tagung – in Potsdam, Wien, Mainz, Klagenfurt und Rostock. Nach seiner Emeritierung gründete sich vor dem Hintergrund des Wunsches vieler Beteiligter nach einer Fortführung die „Gesellschaft für interdisziplinäre Spracherwerbsforschung und kindliche Sprachstörungen im deutschsprachigen Raum e.V.“ mit Waldemar von Suchodoletz als Ehrenmitglied. Sie vereint heute Expert:innen sowie Praktiker:innen aus dem Bereich der Medizin, Sprachtherapie/Logopädie, der Psychologie, der Sprachheilpädagogik, der (Patho-)linguistik, der Neurowissenschaften u. a. aus sechs verschiedenen Ländern und richtet weiterhin die ISES als einzige interdisziplinäre Fachtagung zu Sprachentwicklung und ihrer Störungen im deutschsprachigen Raum aus. Parallel zur Ausrichtung der ISES etablierte Waldemar von Suchodoletz von München aus die „Interdisziplinäre Mailingliste Sprachentwicklungsstörungen“, in der seit vielen Jahren ca. 1000 Fachleute aus Wissenschaft und Praxis im Austausch stehen.  Waldemar von Suchodoletz hat hier in seiner aktiven Zeit viele Diskussionen angeregt, immer wieder neuen Input, auch aus der internationalen Literatur, gegeben und die Liste sehr aktiv am Leben erhalten.

Die Aufbereitung von Wissen und empirischen Erkenntnissen in Bezug auf Sprach- und Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten sowie die  Bereitstellung dieses Wissens für Praktiker:innen verschiedener  Disziplinen und Familien von Kindern mit Entwicklungsstörungen ist Waldemar von Suchodoletz ein großes Anliegen gewesen und ist ihm in  ganz herausragender Weise gelungen. Während seiner aktiven Zeit in München richtete er mit seiner Abteilung jährlich das „Kinder- und jugendpsychiatrische Frühjahrssymposium über Entwicklungsstörungen“ aus. Die zahlreichen Teilnehmer:innen füllten jedes Jahr das gesamte Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität. Ausgewiesene Experten stellten in Vorträgen neueste wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis zusammen. Im Anschluss an diese Symposien entstanden mehrere Bücher über die Ätiologie, evidenzbasierte Behandlung und Prävention von Entwicklungsstörungen. Diese erfreuen sich einer breiten Leserschaft, da sie in extrem gut verständlicher Weise empirische Erkenntnisse über Entwicklungsstörungen zur Verfügung stellen und auf diese Weise den Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis der Diagnostik und Therapie von Kindern mit Entwicklungsstörungen unterstützen. Nicht nur in Büchern, sondern auch in zahlreichen Vorträgen im In- und Ausland verfolgte Waldemar von Suchodoletz diese Idee weiter. Seine klare und fokussierte, aber auch unterhaltsame Art Vorträge zu halten ermöglichte es den Zuhörenden auch hier, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu rezipieren und für das eigene praktische Handeln mitzunehmen.

Im Zuge der Beschäftigung mit frühen Verzögerungen der Sprachentwicklung wurde in München eine Längsschnittstudie mit zweijährigen Kindern gestartet. Waldemar von Suchodoletz hat im Verlauf der Studie mit fast jedem Kind und dessen Familie persönlich Kontakt gehabt und die Entwicklung verfolgt und dokumentiert. In diesem Kontext wurden Fragebögen zur Identifikation von frühen sprachlichen Verzögerungen entwickelt (SBE-2-KT und SBE-3-KT), die seitdem für die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen frei zur Verfügung stehen. Dieses Angebot wird sehr intensiv in der Pädiatrie, aber auch anderen Fachdisziplinen genutzt und leistet seit seinem Erscheinen einen wichtigen Beitrag für die Früherkennung und Prävention von Sprachentwicklungsstörungen.

Waldemar von Suchodoletz hinterlässt einen reichen Schatz an sehr gut lesbaren Büchern und Fachartikeln sowie in der Praxis nutzbare Früherkennungsinstrumente. Er war entscheidender Taktgeber für den interdisziplinären Austausch im Bereich der Sprachentwicklungsstörungen im deutschsprachigen Raum und hat sein Fach sowie angrenzende Fachgebiete in Bezug auf die Hintergründe, Diagnostik und Intervention bei kindlichen Entwicklungsstörungen in den letzten Jahrzehnten entscheidend mitgeprägt.

Nach seiner Emeritierung 2009 hat Waldemar von Suchodoletz für einige Zeit Publikationsprojekte zu Ende gebracht und ausgewählte Vorträge gehalten, um dann mit der ihm eigenen Konsequenz alle beruflichen Tätigkeiten niederzulegen und sich ganz anderen Dingen zu widmen.

Ganz persönlich bin ich sehr dankbar, dass ich bei Waldemar von Suchodoletz in der Abteilung für Entwicklungsstörungen der LMU arbeiten durfte, bei ihm so Vieles lernen und mit ihm gemeinsam publizieren konnte. Er hat mich entscheidend auf meinem eigenen wissenschaftlichen Weg gefördert und geprägt, und ich werde sehr gern und auch mit Stolz weiter im Bereich der kindlichen  Sprachentwicklungsstörungen und dem damit verbundenen interdisziplinären Austausch tätig sein. Seine Publikationen werden noch eine ganze Weile auf der Liste der Prüfungsliteratur meiner Studierenden verbleiben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es je schaffen werde, in einem solchen Tempo so gut lesbare Bücher und Beiträge zu schreiben, aber es bleibt mein Ziel…


Steffi Sachse im März 2021

Prof. Dr. Steffi Sachse, Pädagogische Hochschule Heidelberg

Beirätin für Psychologie, GISKID e.V.